Die Klavierstunde* (1963)
Wann kann mit dem Klavierunterricht begonnen werden?
Nicht nur Mozart konnte bereits im Kindergartenalter vortrefflich Klavier spielen. Auch von anderen mehr oder weniger mit historischem Ruhm bedachten Menschen ist überliefert, daß sie derartige Fähigkeiten besessen haben sollen. Auch in der heutigen Zeit tauchen immer wieder „Wunderkinder“ auf, die in der Tat erstaunliches instrumentales Können erlangt haben. Man tut sich schwer, gegen so gewichtige Beispiele die Meinung zu Behaupten, dass das Klavierspiel im vorschulpflichtigen Alter Unfug ist. Aber man kann die Leistungen von außergewöhnlichen Menschen nicht als Maßstab gebrauchen; ein normal entwickeltes Kind ist auch durch besten Unterricht nicht dazu zu bringen, daß es mit 7 Jahren eine dreistimmige Invention begreift und reproduziert, da es hierfür geistig einfach noch nicht genügend entwickelt ist. Ganz abgesehen davon setzt eine derartige Leistung ein technisches Können voraus, das in mehrjährigem Training erworben sein muß.
Allerdings gestehen Pädagoge und Psychologe zu, daß für die echte Begabung und insbesondere das fachlich einschlägige Talent die Wachstumsnormen nicht unbedingt gültig sind. Es ist möglich, daß sich im Reifungsprozess gewisse geistige und psychische Fähigkeiten schneller entwickeln und dem allgemeinen Wachstum voraneilen, weshalb sich auch ein musikalisch begabtes Kind unter Umständen früher als der Durchschnitt zu einschlägigen Leistungen fähig erweist. Aber diese frühreife Begabung taucht seltener auf, als manche ehrgeizige Mama es wahrhaben möchte - und keinem Heranwachsenden wird es gut bekommen, wenn seine Entwicklung forciert wird. Ein Kind sollte das Recht haben, in jeder Hinsicht ein Kind zu sein!
So gibt es eine ganze Reihe gewichtiger Gründe, sich von der Leistungsfähigkeit eines Kindes, das Musikunterricht erhalten soll, erst ausführlich zu überzeugen. Der Anfänger sollte grundsätzlich bereits in einem Reifestadium angelangt sein, das erwarten läßt, daß sich bevorstehende geistig-musikalische Entwicklung zumindest parallel zur gewöhnlichen mechanischen Progression am Instrument vollzieht.
Diese normale Progression sieht vor, daß etwa ab Mitte bis Ende des zweiten Unterrichtsjahres an der klassischen Sonatine und an leichteren Bach-Werken (z.B. den „Kleinen Präludien“), spätestens im 4. bis 5. Jahren an den ersten leichteren Sonaten und den entsprechenden Unterrichtswerken der Mittelstufe aus anderen Stilbereichen gearbeitet werden kann. Das heißt, daß ein Schüler bereits im zweiten Unterrichtsjahr schon weit über die kindlich-musikalische Mentalität hinausgereift sein muß, daß er die tonalen funktionalen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen vermag, daß er einen hinreichend ausgedehnten rhythmischen Erlebnisambitus hat und die Fähigkeit besitzt, in einfachen polyphonen Strukturen zu denken. Welches Kind aber kann dies alles schon mit acht oder neun Jahren? Mag durch eine planmäßige Förderung der Musikalitätsbereich vertieft, seine Entwicklung intensiviert, sein natürliches Reifen durch vorsichtige Einflussnahme und Schulung beschleunigt werden , so ist im Prinzip doch nichts daran zu ändern, daß sich das Wachstum innerhalb der individuell gesetzten Grenzen vollzieht. Und es besteht in Wirklichkeit auch kein ersichtlicher Grund, diese Grenzen nicht wahrhaben zu wollen.
*aus Erich Wolfs "Der Klavierunterricht" (1963)